Münchner Sozialdemokratisches Urgestein Christian Ude bei den Seeheimern Oberbayern und im Traditionsortsverein Freiland

Ein volles Haus in der Traditionsgaststätte FREILAND erwartete den Redner der diesjährigen Jahresauftaktveranstaltung „Kartoffelsuppe“, Alt Oberbürgermeister Christian Ude, der zu dem aktuell die Sozialdemokraten wohl am meisten bewegenden Thema sprach: „Macht endlich Politik! – Über die Zukunft der deutschen Sozialdemokratie“

Die über neunzig Besucher erlebten eine fulminante Rede, einen Christian Ude in Bestform. In Bestform waren auch seine erzielten Wiederwahlerfolge, die sich – so eingangs Robert Hagen von den „Seeheimern Oberbayern“ – in dem seltenen SPD-Maß „60-62-67“ widerspiegelten: die Wähleranteile, die ihm dreimal bei der Bestätigung im Amt durch die Münchnerinnen und Münchner gewährt wurden. Dass die heutige Lage seiner Partei davon drastisch abweiche, darum und über das Warum sollte es in dem Vortrag gehen.

Ude begann seine Rede mit Zitaten aus Facebook, dem Medium, in dem sich die politischen Diskurse heute vornehmlich austoben. Es waren Einträge, die man tagtäglich lesen kann: von SPD-Funktions- und Mandatsträgern, in denen in geradezu feindseliger Weise deren eigene SPD „in die Tonne getreten wird“, nicht nur wegen aktueller Vorkommnisse, sondern wegen der gesamten eigenen Politik in der Großen Koalition und auch noch wegen der rotgrünen Politik unter Bundeskanzler Schröder, „sodass überhaupt kein Kapitel ungeschoren davonkommt“. Auch wenn die Agenda-Politik unzweifelhaft viele verprellt habe, sei es eindeutig falsch und mehrfach widerlegt, dass wegen der Agenda keine Wahlsiege mehr möglich seien. „Statt die eigene Politik zu erklären und positive Wirkungen herauszustellen und jetzt finanzierbare Korrekturen vorzunehmen, erweckt man den Eindruck, die SPD habe mutwillig ihre Glaubwürdigkeit zerstört. Zu glauben, dass man mit solcher Selbstbeschimpfung Wähler gewinnen kann, ist doch absurd!“

Steht also die SPD vor dem Abgrund? Ein Blick in die europäische Landschaft zeigt erschreckende Beispiele, wie früher großartige sozialdemokratische Parteien ins Trudeln geraten sind: In Italien fürchtet die Sozialdemokratie die kommenden Wahlen wie der Teufel das Weihwasser; in Griechenland ist die PASOK zu einer Splitterpartei verkommen, derweil die angeblich lupenrein linke Syriza mit Rechtsradikalen koaliert; in Frankreich gewann der nationalistische Front Nationale von Marine Le Pen doppelt so viel Stimmen wie die hiesige AFD. Die dortige Sozialdemokratie, die früher einen Mitterand hervorgebracht hat, wurde in den letzten Wahlen geradezu marginalisiert; in Großbritannien schaut eine angeblich vorbildlich erneuerte Labour-Party hilflos dem BREXIT zu, den sie durch ihre eigene Unentschlossenheit in der Europa-Frage mitverschuldet hat; und in Deutschland selber sind „Geisterfahrer unterwegs, die die Vereinigten Staaten von Europa bis zum Jahre 2025 fordern, während sie in kaum einem europäischen Land für ihre Europa-Politik Verbündete finden. Da kann man nur noch von Realitätsverlust sprechen“.

Als weiteren Beleg führte Ude Frankreich an: „Macron wird hierzulande wegen seiner Europa-Initiativen wie ein Heilsbringer verehrt. Er führt aber gerade jetzt eine Politik durch, die Schröders Agenda-Politik nicht nur ähnelt, sondern mit ihr in vielen Punkten deckungsgleich ist“. Dass die Agenda 2010 Fehlentwicklungen gezeigt hat, sei ja unstrittig, so wie dies bei jedem größeren Gesetzesvorhaben der Fall ist. Daher seien ja auch Nachbesserungen erfolgt und ggf. weitere nötig. Das aber sei kein Grund, ständig zu erzählen, dass man sich versündigt und die Seele verkauft habe. „CDU und CSU würden, wenn sie die Agenda-Politik durchgesetzt hätten, täglich erzählen, aus welcher elenden Situation sie die wirtschaftliche Lage herausgeführt haben, dass sie die Sozialkassen vor dem drohenden Ruin bewahrt haben und dass seit dem damals ausgelösten Wirtschaftsaufschwung so viele Steuereinnahmen sprudeln, dass man unbestreitbare soziale Härten wieder mildern kann.“

Ein zweiter Punkt: Die Alternativlosigkeit. Viel zu lange sei in der letzten großen Koalition – auch von unseren Funktionären – die Politik von Angela Merkel als alternativlos hingenommen worden. „Ich bin kein Freund Großer Koalitionen, aber man erinnere sich mal, dass wir aus ebendieser Junioren- Rolle heraus im Jahre 1969 die CDU bezwungen haben! Unsere damalige Führung mit Brandt, Schmidt und Wehner hatten eben eine Strategie und auch ein Leuchtturmprojekt: die Ostpolitik. Genau hier würde ich heute neu ansetzen“.

Mit Leuchtturmprojekten aus der Krise

Ost-West Entspannung

Ein solches wäre, Ude zufolge, ein Programm zur Ost-West Entspannung. Er führte dazu aus, dass es im Russland-Ukraine-Konflikt nicht nur schwarz und weiß gäbe, sondern auch die Grautöne zu beachten seien. Die NATO-Ausdehnung sei entgegen den Versprechungen, die unter anderem von Genscher bestätigt worden sind, durchgeführt worden. „Das kann man in den Büchern von Gabriele Krone-Schmalz und sogar vom Strauß-Intimus Winfried Scharnagl – mit Vorwort von Gorbatschow geadelt – alles nachlesen.“

Neuer Nord-Süd Dialog

Der Nord Süd Dialog wurde 1981 von Willy Brandt angestoßen. Unter seinem Vorsitz gründete sich 1977 die „Unabhängige Kommission für Internationale Entwicklungsfragen“. Sie wurde auf Anregung des damaligen Weltbank-Präsidenten Robert McNamara ins Leben gerufen und widmete sich entwicklungspolitischen Problemen. „Das von Brandt herausgegebene Buch „Das Überleben sichern. Bericht der Nord-Süd-Kommission“ liest sich wie ein aktueller Kommentar zur heutigen Flüchtlingskrise“.

Mehr Demokratie wagen

Als drittes Leuchtturmprojekt schlug Ude vor, genau wie Brandt zusammen mit den Bürgern „mehr Demokratie zu wagen“, sprich dem Bürger mehr demokratische Freiheiten und Gestaltungsmöglichkeiten einzuräumen. „Auf einem AFD-Plakat waren die Schweizer Berge unterschrieben mit dem großen Slogan „Volksentscheid“ zu sehen. Dabei hat unser Wilhelm Hoegner diese Idee aus dem Schweizer Exil mitgebracht und in die Bayerische Verfassung geschrieben. Ich frage mich, warum um Himmels willen wir dieses Thema der AfD überlassen!“

Neues Bodenrecht

Als viertes Leuchtturmprojekt schlägt der Altoberbürgermeister eine Reform des Bodenrechtes vor. Im Jahrhundert der Urbanisierung und des weltweiten Wachstums großer Städte mit einer wahrhaften Explosion der Bodenpreise sei dieses Thema dringender denn je. Ein entsprechendes Projekt habe schon Hans-Jochen Vogel vor Jahrzehnten vorgeschlagen, die SPD aber habe es versäumt, diese pro-aktiv anzugehen.

Steuerpolitik

Als fünftes Leuchtturmprojekt identifizierte Ude die Steuerpolitik: „Wir wollen die Reichen höher besteuern, zeigen aber absolute Realitätsferne, wenn als Grenze hierfür 60.000 Euro Jahreseinkommen festgesetzt werden sollen. Dies ist kein übermäßiges Gehalt für gut ausgebildete Arbeitnehmer heutzutage. Sie als Superreiche zu bezeichnen und zu behandeln ist angesichts der Lebenshaltungskosten geradezu absurd und verdrängt all diese Leistungsträger aus unserer Partei und aus unserem Wählerkreis“. Stattdessen gäbe es genügend zu tun, zum Beispiel die sogenannten Cum-Ex-Geschäfte abzustellen, die den Fiskus Milliarden gekostet hätten, oder die „Googles“ und andere Hightech-Firmen endlich einer angemessenen Besteuerung zuzuführen. „Nicht die abschreckende Erhöhung von Steuersätzen, sondern die Durchsetzung der vorhandenen Gesetze hätte Thema unseres Wahlkampfes sein müssen“.

Schlüsse ziehen aus der Bankenrettung

Zwar, so Ude, sei es klar, dass man systemrelevante Banken nicht einfach hätte absaufen lassen dürfen, aber die Konsequenzen aus der Bankenkrise seien nicht entschlossen genug gezogen worden. So würde als eine der möglichen Maßnahmen die Finanztransaktionssteuer zwar seit nunmehr zehn Jahren diskutiert werden, eingeführt habe man sie aber immer noch nicht.

Griechenlandpolitik

In Folge der Finanzkrise hätten wir es stattdessen zugelassen, dass sich die soziale Lage im überschuldeten Griechenland geradezu katastrophal entwickelt habe. „Die konservative Seite hat Griechenland-Bashing betrieben und mit Kaputtsparen die Lage verschlimmert sowie Feindseligkeit innerhalb der EU befeuert, das linke Spektrum hat die Mitverantwortung Griechenlands an der eigenen Krise geleugnet und Hilfen ohne Bedingung gefordert, was anderen armen EU-Ländern wie auch deutschen Steuerzahlern nicht vermittelbar war. Richtig wäre gewesen, alle Verursacher der Überschuldung beim Namen zu nennen und in die Pflicht zu nehmen, ein realistisches Sanierungskonzept zu entwickeln und Hilfen mit vertretbaren Bedingungen zu verbinden.“

Türkeipolitik

Thema Nummer acht: Türkei. „Ihr wisst, dass ich ein Anhänger der EU-Mitgliedschaft der Türkei war. Wenn wir aber heute realistisch sehen, wie sich die Türkei entwickelt hat, kann niemand mehr ein VETO-Recht Erdogans innerhalb der Europäischen Union wünschen.“ Er sei früher auch ein Befürworter des Doppelpasses für alle Antragsteller gewesen; heute müsse er aber feststellen, dass größere Gruppen der so Begünstigten sich mitten unter uns radikalisiert hätten und nun Träger eines exzessiven türkischen Nationalismus in Deutschland seien. „Einen derart fanatischen und aggressiven Nationalismus lassen wir bei deutschen Rechten mit Recht nicht zu – bei Türken aber schon?“

Lösungen zur Flüchtlingskrise

Der Alt-OB streifte dieses Thema aus Zeitgründen nur noch, verwies aber darauf, dass es die Hauptursache für die Entfremdung zwischen der Partei und ihren einstigen Stammwählern sein dürfte. „Es war zweifellos ein Fehler, die Auswirkungen der Migration auf die Sicherheitslage, auf die Staatsfinanzen, auf die Gleichberechtigung der Frau, auf die Religionsfreiheit und den Antisemitismus nicht zu thematisieren, sondern moralisierend zu bestreiten und so den Rechten für ihre Agitation zu überlassen.“

Zum Wahlkampf und seinen Folgen

Schließlich ging Ude noch auf den verlorenen Wahlkampf ein: „Dieser Wahlkampf war von Anfang an in wesentlichen Teilen falsch angelegt“. Es sei doch schizophren gewesen, dass die Erfolge der SPD in ALLEN politischen Konstellationen geradezu tabuisiert wurden. Sogar der Mindestlohn sei bestenfalls am Rande im Wahlkampf erwähnt worden.“ Hat man sich geschämt, dass es im Rahmen der GroKo erfolgte?“. Die plötzliche Schilderung der Bundesrepublik als Hort der Ungerechtigkeit habe der SPD als mitverantwortlicher Regierungspartei nicht zugutekommen können.

Und er fasste, auf die Empfehlungen nach der Wahl eingehend zusammen: „Ein Linksruck, wie ihn die Vorsitzende der BayernSPD ausdrücklich unter diesem Titel fordert, kann wohl kaum die Lösung sein. Es müsste uns doch zu denken geben, dass wir in der Stadt München von den koalitionsbereiten Grünen überholt wurden, im Landkreis München sogar von der wirtschaftsliberalen FDP und in erschreckend vielen Wahlkreisen sogar von der AfD. Ich kann da keine Sehnsucht nach linken Parolen entdecken. Mehr Gerechtigkeit muss man bieten, nicht lautstark im Munde führen.“

Bei vielen Auftritten führender Repräsentanten nach der Wahl könne man sich nur noch „an den Kopf fassen“.

 

Die anwesenden Parteimitglieder fassten sich nicht an den Kopf, sondern applaudierten stürmisch und lang anhaltend für die engagierte und aufrüttelnde Rede von Christian Ude, nachdem der seinen Vortrag mit den Worten schloss: „In der heutigen Zeit des Umbruches, der Globalisierung, der Digitalisierung, der Flüchtlingskrise und sozialer Verwerfungen wäre eine starke SPD notwendiger denn je. Lasst uns daran gehen, eine solche wieder zu schaffen!“

Diskussion

In der nachfolgenden intensiven und ausführlichen, von Dr. Fabian Winter souverän geleiteten, gelegentlich heftigen Diskussion beteiligten sich neben vielen anderen Parteifreunden auch zahlreiche Mandatsträger wie Florian von Brunn, Florian Post sowie die Seeheimer Prof. Dr. mult. Peter Landau und  Klaudia Martini.

In seinem Schlusswort zitierte Christian Ude aus seinem Buch „Die Alternative oder: Macht endlich Politik“ den ihm als wesentlich erscheinenden Punkt: „Nummer eins des Problems ist die Flüchtlingsfrage. Es geht dabei nicht ausschließlich um den ökonomischen Kuchen und dessen Verteilung, sondern darum, welche Tischsitten zukünftig herrschen“. Die Meinung, es komme nur auf das Grundgesetz und dessen Einhaltung an, betone zwar eine wichtige Kernforderung, springe aber zu kurz. Der Berliner Raed Saleh, ein palästinensischer Moslem an der Spitze der Berliner SPD-Fraktion, habe in seinem Buch „Ich deutsch“ ausgeführt, gerade Flüchtlinge seien auf kulturelle Leitbilder angewiesen. Ude steuerte eine persönliche Erfahrung bei: „Nach einer Einbürgerungsfeier mit einigen hundert Teilnehmern haben wir eine schriftliche Umfrage gemacht, ob das Fest gefallen hat. Einziger, aber häufiger Einwand: Warum gab es Spezialitäten aus aller Welt, aber kein deutsches Essen? Warum hängt hier keine deutsche Fahne? Warum haben wir nicht die Nationalhymne gesungen? Wir sind doch jetzt deutsche Staatsbürger!“

Christian Ude ist auch Vorsitzender der Äthiopien-Stiftung von Karl-Heinz Böhm. Mit Blick auf die Zustände in diesem afrikanischen Land mit seiner alten Kultur und seinen heute über 100 Millionen Einwohnern sagte er, und griff dabei eine Frage von Florian Post auf: „Liegt es denn wirklich im Interesse der Entwicklungsländer, dass wir deren wenigen Fachkräfte auch noch abwerben“. Inzwischen verbiete der dortige Staat die Ausreise von Studierten, und das sei doch durchaus verständlich.

Er stimmte Florian Post auch in dessen Beschreibung der SPD-Defizite bei der Wahlanalyse zu und sagte: “Ja, es fehlt schon an der Bereitschaft, unsere Wähler realistisch einzuschätzen und ihre Bedürfnisse ernst zu nehmen, auch wenn sie nicht den Klischees der Beschlusslage entsprechen.“

Zum Schluss gab es noch einen Seitenhieb auf diejenigen Funktionäre, die liebend gerne in die Opposition gingen, um die Partei dort zu erneuern: „Wenn sie glauben, dass man sich in der Opposition regenerieren könne und zu ungeahnten Kräften komme, dann kann der bayerische Bürger darüber nur schmunzeln…“.

München, Januar 2018

Robert Hagen